Friedrich Wilhelm Weber als Politiker

von Elisabeth Affani

 

His practice as a doctor did not keep him from writing poetry.(Catholic Encyclopedia newadvent.org)

 

Politik ist niemals mein eigentliches Element gewesen.“ (F.W. Weber)

 

Die Möglichkeiten eines Arztes, seinen Patienten zu helfen, waren zur Zeit Friedrich Wilhelm Webers begrenzt. Kranke auch in abgelegenen Ortschaften zu behandeln, ohne Auto, ohne Chauffeur wie bei den heutigen Notärzten, ohne geregelte Vergütung, war schwierig und zeitraubend.

Ärzte haben, weil sie mobiler sind, heute nicht mehr Freizeit. Welchem engagierten Arzt gelingt es, neben seiner ärztlichen Tätigkeit noch andere Nebentätigkeiten auszuüben? Welcher Arzt engagiert sich politisch? Welcher Arzt betätigt sich neben seiner Berufstätigkeit als Dichter oder Schriftsteller? Eckard von Hirschhausen und Philipp Rösler dürften als Beispiel dienen, dass es in der Regel nur ein Entweder-Oder gibt. Generalisten sind in allen drei Berufsgruppen so selten geworden wie Idealisten.

Ein Politiker wird von  manchem schlichten Bürger beneidet und argwöhnisch beobachtet. Kritik wird gern an jeder Diätenerhöhung geübt, die nur sporadisch gefüllten Abgeordnetenreihen geben Anlass, über die säumigen Parlamentarier zu schimpfen. Die Politikverdrossenheit ist angesichts der schwindenden Wahlbeteiligung ein gängiges Thema in allen Medien. Dichtende Politiker sind jedenfalls eine Rarität, die fehlten uns noch. Politiker schreiben schon einmal ein Buch oder geben es heraus, wobei der Leser nie sicher sein kann, ob ein Buch wirklich von der Persönlichkeit stammt, die ihren Namen über den Titel setzt. Biografien sind nach einem erfüllten Politikerleben Pflichtprogramm.

Wie nun gelingt Weber der Spagat zwischen drei Berufen? Fernsehen, Internet und Telefon standen ihm nicht zur Verfügung. Als niedergelassener Arzt und als Privatmensch war er zu Fuß, zu Pferde oder in der Postkutsche unterwegs, später sicher auch mit dem Zug. Die mündliche Kommunikation geschah von Angesicht zu Angesicht, die schriftliche mittels des postalischen Briefes oder per Kurier. Den Quellen nach führte Weber einen umfangreichen Briefverkehr. Handschriftliche Briefe kosten Zeit, Kugelschreiber und Filzstifte gab es nicht. Er arbeitete abwechselnd in Bad Driburg und Bad Lippspringe. Nach seinem Umzug ins Schloss Thienhausen musste er zusätzlich seine kranke Frau pflegen, er kultivierte den verwilderten Schlosspark und empfing regelmäßig Sommergäste. Er musste selbst mit Krankheiten kämpfen. Er vertiefte sich in die europäische Literatur des Mittelalters. Er beschäftigte sich mit altdeutscher, englischer und skandinavischer Literatur. Er war nicht einfach als Übersetzer tätig, sondern verfasste möglichst authentische Nachdichtungen, die von allen Seiten gelobt werden.

Wie um alles in der Welt konnte er sich auch noch die notwendigen Grundlagen und speziellen Kenntnisse von politischen Zusammenhängen aneignen?

Aus meiner modernen, beschränkten Perspektive möchte ich feststellen: Er war ein besorgter Vater und Ehemann, falls er denn zwischen Bad Lippspringe und Berlin Zeit für die Familie fand, er war ein guter Freund, er war für damalige Verhältnisse sicher ein guter Arzt, er war ein gewissenhafter und fleißiger Sprachforscher, ein Lyriker und ein episch breiter Versdichter. Er konnte tränenreiche Briefe an seine Frau schreiben, in denen er beklagte, dass er nicht bei ihr und seiner Tochter sein könne. Heute würde sich wohl ungewollt manches Verdachtsmoment, manch skeptischer Gedanke ausbreiten, ob Weber wirklich nur der Politik wegen in Berlin war.
Wortreich schildert sein Biograf Julius Schwering die vielen geistigen Anregungen, die ihm die preußische Hauptstadt und der Kontakt zu vielen Persönlichkeiten gaben. Vom Parlament ist kaum die Rede.
Brauchte der preußische Landtag keine Vollzeitpolitiker? Reichte der Zentrumsfraktion ein Abgeordneter, der hauptberuflich Arzt und nebenberuflich Dichter war? Weber war politisch nicht gebildet. Seine politische Bildung beruhte überwiegend auf dem Selbststudium. Die Grundlagen seines Denkens findet man, falls man seinen Biografen Glauben schenkt, in seinem christlich-katholischen Bekenntnis. Er war Humanist, seine politische Grundeinstellung war national, liberal, sozial und nach einer gemäßigt revolutionären Sturm- und Drangzeit auch monarchisch. Er heilte Verletzungen, er verursachte keine.
Warum wurde er vom Wahlkreis Höxter-Warburg drei Jahrzehnte lang ins preußische Parlament gewählt? Er war als Arzt und Mitbürger auch über die Grenzen Bad Driburgs hinaus in Lippspringe und später im Umland von Thienhausen und Nieheim bekannt und beliebt. Er war katholisch. Man traute ihm zu, sich vor einem parlamentarischen Gremium zu äußern. Diese Fähigkeit hatten nicht viele Bürger. Die gebildete Schicht war naturgemäß nicht übermäßig groß. Das Abitur konnten nur wenige im Landkreis ablegen, die allgemeine Schulpflicht wurde erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der Mehrheit der Bürger und Ackerbürger, wenn auch oft zähneknirschend, akzeptiert. Die Schulbildung kostete Geld und Zeit. Kleinstädte wie Driburg brauchten Lehrer, Ärzte, Juristen und Priester, aber eben nicht unbegrenzt. Weber konnte mit Hilfe seines Bruders und einiger Gönner in Paderborn die Hochschulreife erlangen und in Greifswald und Breslau Medizin studieren. Er gehörte zu einer Minderheit.
Man traute ihm also zu, quasi als Abfallprodukte seiner medizinischen und literarischen Studien und vor dem Hintergrund eines existenzsichernden Berufes auch die Aufgaben eines Politikers zu bewältigen. Er gehörte zu den Notabeln, den Honoratioren. Wenigstens einen Teil des Jahres, während der Berliner Sitzungsperiode, lebte er für die Politik und nicht von ihr. Er bezahlte für seine politische Funktion, für sein höheres Ansehen. Sein Einkommen war die Voraussetzung für die Wahl.
Als Weber Ende 1813 geboren wurde, war der Kanonendonner der sogenannten Völkerschlacht von Leipzig gerade verhallt. Viele blutige Hände waren in der Weißen Elster, in Pleiße und Parthe gewaschen worden. Als er 1833 das Abitur ablegte, war nach der Restauration in der Folge des Wiener Kongresses der politische Vormärz angebrochen.
Zeige mir deine Freunde, und ich sage dir, wer du bist:

Weber freundete sich während des Medizinstudiums unter anderen mit den Schriftstellern Heinrich Hoffmann von Fallersleben, dem Dichter des Deutschlandliedes, und Gustav Freytag an, der seine Dissertation „Über die Anfänge der dramatischen Poesie bei den Germanen“ verfasste.
Der Germanist Freytag trat der Burschenschaft „Corps Borussia Breslau“ bei, gehörte zum liberalen Bürgertum und wurde wegen seiner kritischen Berichterstattung über die Niederschlagung der Weberaufstände aus Preußen ins politische Asyl nach Sachsen getrieben. Im Reichstag des Norddeutschen Bundes war er von 1867 bis 1870 Abgeordneter der Nationalliberalen und trat aus Enttäuschung über Bismarcks Politik zurück. Er überlebte Weber um ein Jahr.

Hoffmann war fünfzehn Jahre älter als Weber und Mitglied der „Alten Göttinger Burschenschaft“ sowie später der „Alten Bonner Burschenschaft“. Auch er eckte wegen seiner liberalen Tendenzen bei der preußischen Regierung an, weil er die Kleinstaaterei, die Pressezensur und die Unterdrückung der Bürgerrechte verurteilte. Er wurde 1843 ausgebürgert und war auf die Hilfe von Freunden angewiesen. An der Märzrevolution 1848 nahm er nicht aktiv teil. Er wurde 1849 rehabilitiert, zog 1860 nach Corvey und war dort als Schlossbibliothekar angestellt.
Wenn Weber offen für den Einfluss seiner Freunde war, teilte er sicher ihr Nationalgefühl wie ihren Nationalismus, ihr Freiheitsdenken sowie ihre späte Freude über die Reichsgründung 1871 auf Kosten der Franzosen. Weber trat 1835 in Greifswald dem „Corps Pomerania“ bei. Da er verdächtigt wurde, sich an revolutionären Aktionen beteiligt zu haben, musste er sich vor dem Universitätsgericht verantworten. Er konnte einige Zeit nicht mehr kostenlos in der Mensa am sogenannten Freitisch essen, bis er freigesprochen wurde. Aber er musste sich nicht verstecken und niemanden um Asyl bitten. Im Gegensatz zu Hoffmann veröffentlichte er nur wenige politische Lieder und provozierte keine Repressionen.
Sogar in Bad Driburg tauchten 1848 einige schwarz-rot-goldene Revolutionsfahnen auf, die aber auf Anordnung des Bürgermeisters rasch eingezogen wurden. Weber erschien hier unter den maßgeblichen Akteuren, die öffentliche Versammlungen abhielten und den Bürgern demokratische Ideen vermittelten. Gern wurde dabei auf den König und die preußische Regierung, auf den Adel und die Geistlichkeit geschimpft. Weber soll jedoch Auswüchse, auch Übergriffe auf jüdische Bürger, verhindert haben.
Er stellte sich 1848 als Wahlmann für die preußische und die erhoffte deutsche verfassunggebende Versammlung zur Verfügung. Noch 1849 bezeichnete er sich als Demokraten. Er hatte sich dem „Verein der Volksfreunde“ angeschlossen. Angeblich war seine Verlobung der Grund, weshalb er zunächst nicht als Deputierter nach Berlin gehen wollte. Berlin war noch zu weit entfernt. Möglicherweise war auch seine Enttäuschung über den Verlauf der Revolution zu groß. Der Driburger Bürgermeister charakterisierte ihn als Anhänger der demokratisch-konstitutionellen Monarchie.
Webers politische Laufbahn begann im Driburger Stadtrat 1854 als Mitglied im Demokratischen Verein. Von 1854 bis 1860 gehörte er der Driburger Stadtverordnetenversammlung an. Dort war er vier Jahre Schriftführer und schrieb die Sitzungsprotokolle. Johannes Heinemann stellt fest: „Als Weber […] ausschied, hatte er seine revolutionäre Phase endgültig überwunden.“ (Qu 1 S. 94)
Die Bezeichnung Roter Weber besagt nicht viel, solange man nicht erforscht, wer ihm diesen Spitznamen zulegte und welche Motive dahinter steckten. Den radikalen Jakobinern mit ihren roten Mützen fühlte sich Weber ganz sicher nicht verbunden. Aufstände schreckten den unpolitischen, politisch unmündigen und an preußische Ordnung gewöhnten Bürger eher ab. Dass Weber vom Verhalten des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. enttäuscht war, machte ihn noch nicht zum Revolutionär, sondern passte in den Revolutionsjahren 1848/49 zur vorherrschenden nationalliberalen Stimmung. Die Hoffnung vieler Bürger auf die nationale Einigung und eine liberale Verfassung hatte sich nicht erfüllt. Die politischen Hauptakteure des Vormärz waren hingerichtet worden, saßen im Gefängnis oder waren ins Ausland geflohen. Da setzte sich das Bürgertum lieber wieder die weiße Mütze des Michels auf.
Viel Revolutionäres dürfte Weber also wohl nicht verinnerlicht haben. Im Alter begründete er den „Sturm im März“ mit jugendlicher Schwärmerei. Die Sturm- und Drangphase endet gewöhnlich spätestens dann, wenn der Eintritt ins Establishment erfolgt ist.

Wie gut war der Politiker Weber, wie aktiv, wie engagiert konnte er neben seinen beiden anderen Berufen sein? Wen vertrat er im Landtag – die Berufstätigen, die Ärzte, die gebildeteren Akademiker, die Bürger, die katholische Kirche? War er Lobbyist?

Der anfangs parteilose, liberale, eher demokratische als konservative Weber ließ sich 1861 das erste Mal in den preußischen Landtag wählen, und jetzt war vom „roten“ Weber keine Rede mehr, er wählte die Fraktion des katholischen Zentrums. Es war gefahrlos, unverfänglich, offen in viele Richtungen und politisch unverdächtig wegen seiner Kirchenverbundenheit. Es steigerte Webers Ansehen in seiner überwiegend katholischen Gemeinde und seinem Freundeskreis.

„Das Treiben der Oppositionspartei hatte durchaus nicht Webers Billigung“, schreibt Julius Schwering (Qu 2 S. 179) und begründet dies damit, dass das Zentrum eine „der Staatsleitung freundliche Haltung“ einnahm (S. 180). Weiter überlegt Schwering: „Wenn eine dichterische Natur […] sich an dem parlamentarischen Leben seiner Nation beteiligt, so erwartet nur in den seltensten Fällen ein Verständiger von ihr den Scharfblick und die Weitsicht eines gereiften Politikers. […] So lag auch dem schlichten westfälischen Dichter […] nichts ferner als die ehrgeizige Absicht, im politischen Leben eine führende Rolle zu spielen.“  Er bezeichnet Weber als Fremdling „auf dem Felde der Staatskunst“. Weber selbst sprach hochtrabend von der Mission, die er erfüllen müsse. Eine Entwicklung, die man als fortschrittlich bezeichnen könnte, zeichnete sich in seiner Persönlichkeit nicht ab.

 

Ich nehme den Politikerdichter beim Wort. Das breite AlhausenerTal hinter dem Driburger Rosenberg, in dem er aufwuchs, war ihm zu eng und klein, er brauche mehr Licht, mehr Luft, schrieb er in dem Gedicht „Verstiegen“. Statt des großen Lichtes erblickt das lyrische Ich „Dunst und Qualm“ (Q 3, S. 167). Und dann – singt die Schwalbe wieder vom Lindenast.

Aus dem Jahre 1862, seinem ersten Jahr in Berlin, dem Jahr, das ihm Luft und Licht verschaffen konnte, stammt sein Gedicht „An die Volkspoesie“. Was ist nur aus dem „roten“ Weber geworden? Angeblich fühlt die Volkspoesie, also der Volkspoet, also der Dichter Weber „des Volkes Freud‘ und Pein“ (Q 3, S. 155), angeblich kennt er „sein Sorgen und sein Schaffen“. Er folgt dem Volk in das „Gewühl der Schlacht“ (S. 156). Wirklich? Die vielen Toten, die der Kampf mit oder gegen Napoleon hinterlassen hatte, wollten besungen werden? Hier folgt Weber seinem Zeitgeist so unkritisch, dass er auch mit einem Transparent mit der Aufschrift „Blut und Eisen“ nach Berlin hätte fahren können. Wenn dann doch Zweifel kamen, konnte er immer wieder auf das ländliche Idyll, die Garben, Brunnen, Drosseln, Wachteln und Spinnerinnen ausweichen.

Wo flogen seine Lieder 1862 hin? „In die weite Welt“, „vom Bodensee zum Belt“, „vom Elsaß bis zur Warthe“ sollten „des Heldensaals bestaubte Bilder“ (S. 157) erglühen. Weber ging nach Berlin, um „von alter Zeit“ zu singen und „frisches Immergrün um rostige Wappenschilder“ zu winden. Und dann versteigt er sich wirklich, indem er den alten „Schläfer im Kyffhäuser“ (S. 158) aufwachen sehen will, den legendären, gar nicht friedlichen Kaiser Friedrich Barbarossa, der tief im Berg schläft, bis er erwacht und den Deutschen die nationale Einheit bringt.

Damit erhalten die preußisch-deutschen Kriegszüge von 1864, 1866 und 1870 eine fatale Zwangsläufigkeit. Die Restauration ist noch in vollem Gange und wird auch vom gebildeten Bürgertum mitgestaltet.Wenn wir uns heute fragen, warum Weber so mühsam und vehement als großer Westfale angepriesen werden muss und damit in der Öffentlichkeit so wenig Erfolg erzielt wird, dann finden wir hier die Antwort. Weber hat sich selbst in eine solche Nische gezwängt, dass er daraus künstlich und künstlerisch nicht herausgeholt werden kann. Auch die Reduzierung auf den Westfalen lässt ihn mitsamt seiner teilweise deutschtümelnden Rezeption in kleinbürgerlicher Enge, in Fraktur stecken.

Johannes Heinemann beschreibt den Politiker Weber 1984 im Jahrbuch des Kreises Höxter ebenso wie Franz Schuknecht anlässlich des 100. Todestages des Dichters 1994 als geistig-moralische, aber zeitgebundene Größe. Im Jahre 2013, zu seinem 200. Geburtstag, wird er überwiegend auf sein Epos „Dreizehnlinden“ reduziert. Das macht der Nachwelt jedoch den Zugang zu diesem Dichter nicht leichter und wird ihm auch nicht gerecht.

 

Bereits im März 1862, nach acht Wochen, wurde das Abgeordnetenhaus, in dem Weber sich gerade einrichten wollte, vom König aufgelöst. Auf das nächste Mandat verzichtete Weber, wohl auch aus gesundheitlichen Gründen. Seine Fraktionsfreunde baten ihn jedoch im Sommer bereits zur Rückkehr nach Berlin, aufgeschreckt auch durch die Abspaltung eines linken Flügels, der weniger kompromissbereit und viel oppositioneller war. Der König löste auch 1863 den Landtag auf, der ihm für seine militärischen Ziele das Budget verweigerte. Aber der Widerstand wurde nach zwei gewonnenen Kriegen schwächer.
Seine Stellung als Badearzt in Lippspringe gab Weber 1865 auf und begründete seine Kündigung mit seinen Familienpflichten und seiner angeschlagenen Gesundheit. Kurz darauf fuhr er jedoch schon wieder nach Berlin, um an den Kammerverhandlungen während der Frühjahrssession teilzunehmen. Dort lernte er in den Mußestunden (!) die englische Sprache. Dort hatte er auch die Muße, Briefe an befreundete Damen zu schreiben. Er schickte ihnen fröhliche Verse. Ein Schelm, der Böses dabei denkt.
Ohne den Druck des Lippspringer Badebetriebs konnte Weber sich nun eher um politische Themen kümmern. Aber politische Studien sind wohl eher nicht sein Ziel gewesen. Er wird die Zeit im Zug nach Berlin, die vermutlich einen ganzen Tag in Anspruch nahm, auch für politische Lektüre genutzt haben. Die Eisenbahn und die damit verbundene Aufbruchsstimmung, die Industrialisierung, neue Mittel der Kommunikation wie die Telegrafie und andere Zeichen des technischen und gesellschaftlichen Fortschritts gingen offensichtlich spurlos an Weber vorüber. Es gibt allerdings einen Versuch von Weber, das Motiv der Eisenbahn aufzugreifen.
Johannes Mahr zitiert die ersten zehn Zeilen von Webers Gedicht „Eisenbahnphantasie“. Er bezeichnet den „Versuch, durch mythologische Figuren die neuen Kräfte zu benennen“ (Q 5 S. 117), als erfolglos und urteilt vernichtend in einer Klammer: „Diese von Klopstock abgesehene bardische Manier war eigentlich auch bei den poetae minores seit mehr als 50 Jahren überholt.“ (Q 5 S. 118) Weiter heißt es: „Ohne Anmerkungen ist der Text nicht verständlich – schon dies hat zum Glück weitere Versuche solcher Art verhindert.“
Weber wollte rückwärts blickend vorwärts schauen, es gelang ihm aber nicht.

In Berlin selbst traf er sich mit Kollegen und Freunden, ging gern auch ins Theater oder Museum und fand in den Bibliotheken alle wesentliche Literatur für seine Studien. Oft aber äußerte er sich über den Berliner Politikbetrieb spöttisch, ironisch oder auch frustriert. Leeres Geschwätz langweilte ihn. Dass ein epischer Dichter selbst mehr Worte als üblich produziert, fiel ihm wohl nicht ein und an sich selbst auch nicht auf. Wenn er sich in die mittelalterliche Sagen- und Minneliederwelt vertiefte, blieb die Realpolitik außen vor. Doch aufwühlende politische Ereignisse gingen in seine schriftstellerische Arbeit ein. Teilweise wurde er von ihnen überwältigt. Er hatte 1864 im Dänischen Krieg „die Freudenkunden von Düppel und Alsen mit Jubel begrüßt“ (Qu 2, S. 215). Obwohl er wegen seines christlichen Humanismus selbst absolut friedfertig war und ganz sicher das fünfte Gebot kannte, dichtete er nach dem Sieg über die französische Armee 1871:

                                                                                Poetenwort, Prophetenwort!
                                                                                Mein frommes Volk, nun schlage drein,
                                                                                Und wasche dir nach blut'gem Werk
                                                                                Die Händ' im deutschen Rhein!

Wie fromm ist ein Volk, das sich begeistert ins Kriegsgetümmel stürzt und in sieben Jahren drei Nachbarvölker mit Krieg überzieht: 1864 Dänemark, 1866 Österreich und 1870/71 Frankreich? Wie fromm ist ein Dichter, der diesem Volk zubilligt, es könne seine Hände im deutschen Rhein – wohl nicht mehr in Unschuld – waschen? Was ist das für eine Moral?
Das große Aber muss folgen. Aber: In verdichteter Lyrik werden alle Deutschen zu Unrecht über einen Kamm geschoren. Aber: Weber ist durchaus zuzutrauen, das fromme Dreinschlagen und das Reinwaschen blutbefleckter Hände ironisch zu meinen, weil er seine Bescheidenheit aufgibt und sich selbst mit einem Propheten vergleicht. Aber: Jeden Menschen, jeden Arzt, Dichter und Politiker muss man im Kontext seiner Zeit sehen. Noch kommt kaum ein Deutscher oder ein gebildeter Weltbürger auf die Idee, den edlen, hilfreichen und guten Goethe nicht mehr lesen zu wollen, weil er für Todesurteile verantwortlich war.

Weber trat ab 1867 als Mitglied der Medizinalkommission auf und beschäftigte sich mit der Vereinheitlichung der Medizinal- und Handelsgewichte, mit Umrechnungstabellen, Stellenplänen im öffentlichen Gesundheitswesen und der Vereinheitlichung der Gehälter von Medizinalbeamten. Große Begeisterung dafür ist bei ihm nicht erkennbar. Mathematik war schon in der Schule nicht gerade sein Neigungs- und Leistungsfach.
Weber erschrak zu Beginn des Krieges gegen Frankreich 1870 nur kurz und sang dann mit seiner Familie patriotische Lieder. Naiv und absolut unpolitisch forderte er Bismarck auf, die Manessische Liederhandschrift aus Frankreich ins Deutsche Reich „zurück“ zu holen. Wieso sollte sich Bismarck für Beutekunst erwärmen?
Erst mit Bismarcks sogenanntem Kulturkampf zogen wieder einige dunkle Wolken auf. Außenpolitik war nicht Webers Metier. Weniger innenpolitisch als kulturpolitisch wurde er berührt, als die preußisch-protestantische Reichsregierung sich mit der katholischen Kirche anlegte. Er stammte selbst aus einer konfessionellen Mischehe und hatte darin nie ein Problem gesehen, auch wenn er den katholischen für den besseren Glauben hielt. Die Ökumene hatte er in seinem Elternhaus vorgelebt bekommen. Aber in dem kirchenpolitischen Konflikt drohte er sich zu zerreiben. Allgemeine Menschlichkeit, Moral und christliche Nächstenliebe waren keine politischen Lösungsansätze. Liberalismus und Säkularisierung galten als protestantisch und materialistisch, Konservativismus und Papsttreue als katholisch und idealistisch. Der Dichter Weber wollte auf der idealistischen Seite bleiben. Der Arzt war per se und sine dubio Idealist. Der Politiker musste mit.
Weber brachte in seiner Zentrumspartei jahrelang die Kraft, die ihm seine ärztliche und dichterische Tätigkeit ließ, für parlamentarische Auseinandersetzungen auf. Den Kulturkampf bezeichnete er als Unglück. Um so lieber arbeitete er vermutlich an der Sozialgesetzgebung mit, die das Zentrum wieder zu einer staatstragenden Partei machte. Neue Spannungen ergaben sich durch die Absicht der Regierung, den Wehretat zu erhöhen. Aber dazu äußerte sich Weber nicht öffentlich.
Als Parlamentsredner trat er bis zum Schluss 1892 nicht besonders in Erscheinung. Er lernte den berühmten Arzt und liberalen Politiker Rudolf Virchow kennen und verfolgte sicher dessen Forschungen und Projekte, die das gesamte Gesundheitswesen modernisierten. Aber Weber blieb einfacher praktischer Arzt ohne Ambitionen auf ärztlichem Gebiet.
Heute müsste er mit seinem Fortbildungscode eine punktegesteuerte Quote erfüllen und Bußgeld zahlen, wenn er die Quote nicht erreichte.
Bis zu fünf Monaten musste er während der Sitzungsperioden in Berlin ausharren, das er Babylon oder Babel nannte. Heute würden die Patienten aus der Praxis eines niedergelassenen Arztes zu anderen Ärzten abwandern, wenn der Arzt seinen Betrieb fünf Monate schlösse.
Parallel zum Kulturkampf, einem vom Protestanten Virchow geprägten Begriff, schrieb Weber an seinem Epos „Dreizehnlinden“, das damit durchaus politische Züge erhält. Wie viel Energie ihn dies kostete, lässt sich nicht genau bemessen. Doch diese Energie widmete er eben nicht der Politik.
Auch die Verbindung zu seinen Patienten riss in Berlin nicht völlig ab. Wenn er nach Thienhausen zurückkehrte, teilte er sein Leben in einen ärztlichen und einen literarischen Teil. Der Politiker blieb in Berlin, in der Metropole, deren Luft er über dreißig Jahre lang schnupperte.
Es ist wohl zu viel verlangt, wenn ein Mensch versucht, in drei Professionen professionell zu sein.

Quellen:
1 F. Schuknecht: Der Abgeordnete im preußischen Landtag (1862-1893). In: Friedrich Wilhelm Weber, hgg. von der Weber-Gesellschaft 1993, S. 95 ff.
2 Julius Schwering: Friedrich Wilhelm Weber. Paderborn 1900
3 Friedrich Wilhelm Weber: Gedichte. Eine Auswahl. Paderborn 1990
4 J. Heinemann: Friedrich Wilhelm Weber als Politiker. In: Jahrbuch des Kreises Höxter 1984, S. 253 ff.
5 Johannes Mahr, Eisenbahnen in der deutschen Dichtung, München 1977; http://daten.digitale-sammlungen.de

© Elisabeth Affani 2013